»Ich lebe an einem wahrhaft historischen Ort«

5 Fragen an Prof. Dr. Dieter B. Herrmann

Möchte man mit Prof. Dr. Dieter B. Herrmann ein Interview führen, so spaziert man gemütlich durch den Treptower Park bis sich auf rechter Seite die berühmte »Himmelskanone« durch die Baumkronen erspähen lässt. Der Astrophysiker und Moderator der populären DDR-Wissenschaftssendung »AHA« wohnt dort, wo er als Direktor 30 Jahre lang seinen Arbeitsplatz hatte: in der Archenhold-Sternwarte.

In einer Sternwarte zu wohnen ist schon etwas ganz Besonderes. Was schätzen Sie am meisten an diesem, doch etwas außergewöhnlichen Wohnort?

Das Paradoxe ist ja, dass ich eigentlich niemals hier einziehen wollte. Doch als mein Amtsvorgänger auszog, stellte der Treptower Bezirksbürgermeister fest, dass die Wohnung laut „Wohnraumbewirtschaftungsgesetz“ nur für eine kinderreiche Familie oder eben für den Direktor infrage käme. So wurde ich quasi genötigt, mein zuvor doch eher bescheidenes Domizil in die Arbeitsstätte zu verlegen, mit dem Nachteil „immer im Dienst“ zu sein. Mit der Zeit legte sich allerdings der Verdruss und die Vorteile rückten in den Vordergrund. Ich hatte keinen Anfahrtsweg, brauchte folglich (und hatte) kein Auto, selbst ein Fahrrad war nur zum Durchstreifen des schönen Treptower Parks erforderlich (wo das Radfahren übrigens offiziell nicht gestattet ist). Ein weiterer Vorteil: die umfangreiche Bibliothek stand mir auch außerhalb der Dienstzeit und selbst an Wochenenden zur Verfügung. Mit den Jahren kam das Bewusstsein hinzu, dass ich an einem wahrhaft historischen Ort lebte. Hier hatte schon die Familie Archenhold gewohnt und sogar Albert Einstein hatte in meinem heutigen Wohnzimmer mit den Archenholds zusammen musiziert. Allerdings kamen auch weniger entspannende Klänge hinzu: als wir das Riesenfernrohr 1977 bis 1985 nach 25 Jahren Stillstand wieder in Schuss brachten, schrillten von frühmorgens an nervenzermürbende Metallgeräusche durch alle Wände, die sogar mein Amtsvorgänger noch ertragen musste, der sich daraufhin beim Magistrat darüber beschwerte, dass ich für viel Geld einen „Schrotthaufen“ reparieren lasse.

Ihre Karriere als Astrophysiker kann sich sehen lassen: Sie haben allein 45 Bücher, 150 wissenschaftliche und etwa 2.000 populärwissenschaftliche Publikationen veröffentlicht. Welche Themen haben Sie besonders fasziniert? Welche liegen Ihnen auch heute noch besonders am Herzen?

Mich haben alle Themen fasziniert, mit denen ich mich entweder wissenschaftlich oder populärwissenschaftlich befasst habe. Oft fragt man mich, welches meiner Bücher mir das liebste sei. Die ehrliche Antwort lautet: das, an dem ich gerade arbeite. Allerdings haben sich die Themen im Laufe des Lebens verändert. Zunächst ging es mir darum, öffentliche Beachtung für die Geschichte der Astronomie zu wecken. Gleich mein erstes Buch hieß deshalb „Geschichte der Astronomie von Herschel bis Hertzsprung“ (1975). Dass dieser Erstling neben vier deutschen Auflagen 1984 auch bei Cambridge University Press in englischer Übersetzung erschien – für einen Autor aus der DDR damals ganz ungewöhnlich – war für mich eine große Freude. An ein noch breiteres Publikum wendeten sich die populären Titel „Entdecker des Himmels“ (1978) und „Vom Schattenstab zum Riesenspiegel“ (1978) – Gesamtüberblicke über die Geschichte der Astronomie bzw. der Entwicklung astronomischer Beobachtungsinstrumente. In meinen jüngsten Büchern habe ich mich eher philosophisch-historischen Fragen zugewendet, wie z. B. in „Das Urknall-Experiment. Auf der Suche nach dem Anfang der Welt“ (2014) oder „Die Harmonie des Universums. Über die rätselhafte Schönheit der Naturgesetze“ (2017). Jetzt arbeite ich gerade an einem ganz anderen Thema und das ist mir natürlich „wieder mal“ am liebsten. Worum es sich handelt, wird noch nicht verraten.

Als Student der Physik feierten Sie unter anderem einen Erfolg als Hauptdarsteller des »Entfesselten Wotan« – einer Inszenierung der Studentenbühne der Humboldt-Universität unter Kurt Böwe. Schauspieler statt Naturwissenschaftler: War das jemals ein Dilemma für Sie?

Na und ob! Der „Entfesselte Wotan“ (1923) von Ernst Toller eine geniale satirisch-komödiantische Vorwegnahme der kommenden Hitler-Diktatur, war ja nicht meine erste Bühnenerfahrung. Schon als 12-Jähriger hatte ich im „Haus der Kinder“ an der Parkaue in Lichtenberg Theater gespielt, mit professionellen Regisseuren, Bühnenbildnern und Komponisten. Unter meinen Mitspielern sind einige später echte Berühmtheiten geworden, wie z. b. Helga Hahnemann oder Thomas Langhoff. Doch diesmal war es anders. Proben und Aufführungen fielen in die Zeit wichtiger Prüfungen meines Physikstudiums. Ich versemmelte eine Prüfung gleich zweimal und wurde exmatrikuliert. Die Studentenbühne setzte sich aber für mich ein, so dass ich ein Jahr später mein Studium fortsetzen und erfolgreich zu Ende bringen konnte. Damals schwor ich mir, niemals wieder zwei Dinge gleichzeitig zu machen, die beide vollen Einsatz verlangen.

Im Jahre 1987 wurde das Zeiss-Großplanetarium anlässlich der 750-Jahr-Feier Berlins nach nur zweijähriger Bauzeit von Ihnen als Gründungsdirektor eröffnet. Wie kam es zum Bau und wie haben Sie diese Zeit damals erlebt?

Gleich nach meiner Berufung zum Chef der Archenhold-Sternwarte (1976) hatte ich eine Denkschrift an den Magistrat geschickt, in der ich für den Bau eines großen Planetariums in Ost-Berlin eintrat. Zeiss-Jena lieferte ja Planetarien in alle Welt, nur die Hauptstadt der DDR hatte keines. Eine Antwort auf dieses Dokument habe ich nie erhalten. Dafür aber 1984 einen Anruf der Baudirektion, man habe den Auftrag ein großes Planetarium in Berlin zu errichten. Noch am selben Tag saß der Stellvertreter des Generaldirektors in meinem Dienstzimmer. Das war natürlich eine aufregende Zeit, zumal wir gleich eine wichtige Entscheidung benötigten, die wir nicht allein treffen konnten: wer wird der Betreiber dieses „Sterntheaters“ sein? Es war ja ganz klar, dass ich das Ding haben wollte. Da aber weder die Uni, noch die Akademie oder die Urania irgendetwas ahnten, konnten wir mit viel diplomatischem Geschick die richtige Entscheidung beim Oberbürgermeister durchsetzen. Ein besonderes Glück bestand darin, dass wir vom ersten Zeichenstrich der Architekten in alle Beratungen einbezogen wurden und zahlreiche Wünsche äußern konnten. Nicht einmal den Text meines Eröffnungsprogramms „Phantastisches Weltall“ musste ich irgendjemandem zur „Abnahme“ vorlegen. Selbst Devisen (d.h. Westmark) wurden unseren Wünschen entsprechend bereitgestellt, denn es sollte das „modernste Sterntheater Europas“ werden. Nach zweijähriger Bauzeit wurde das Haus dann am 10. Oktober 1987 zum 750-jährigen Stadtjubiläum Berlins in Anwesenheit von Erich Honecker eingeweiht. Es begann eine Zeit intensivster Arbeit des gesamten Mitarbeiterkollektivs, um dem großen Ansturm der Besucher gerecht zu werden. Im ersten vollen Betriebsjahr 1988 verzeichneten wir rund 260.000 Besucher. Dann kam die Wende mit ganz neuen Herausforderungen und existenziellen Bedrohungen. Doch das ist eine ganz eigene und ebenfalls spannende Geschichte.

Sie waren Moderator der Wissensshow »AHA« des DDR-Fernsehens und haben als Planetariumsdirektor jahrzehntelang Programme konzipiert – Welche Unterschiede sehen Sie zur heutigen »astronomischen Volksbildung«?

Die Aufgaben der „astronomischen Volksbildung“ sind in ihrem eigentlichen Kern dieselben geblieben. Wir wollen breitesten interessierten Kreisen der Bevölkerung das moderne Weltbild der Wissenschaft vermitteln. Gerade Astronomie und Astrophysik sind sowohl in ihrer geschichtlichen Entwicklung wie auch in ihren gegenwärtigen Aktivitäten aufs Engste mit anderen Disziplinen verwoben. Das reicht von Physik und Mathematik, Chemie und Biologie bis zu Philosophie, Kunst, Religion und Kulturgeschichte. Die daraus folgende Ausweitung der Programmhorizonte vom „Sterntheater“ zum „Wissenschaftstheater“ ist eine große Herausforderung und Chance zugleich. Dabei können sich die heutigen Planetarien technischer Hilfsmittel bedienen, die weit über das hinausgehen, was noch vor wenigen Jahrzehnten möglich war. Sie gestatten faszinierende Visualisierungen von Vorgängen im Universum, die alles übertreffen, was Menschen mit eigenen Augen beim Blick zum Himmel wahrnehmen können. So entführen uns die modernen Planetarien in eine Welt von Erkenntnissen, die in mühseliger Forschungsarbeit weltweit tätiger Forscher*innen gewonnen wurden und vermitteln uns eine anschauliche Vorstellung des gegenwärtigen Wissensstandes. Ewige Wahrheiten freilich können hier nicht verkündet werden, denn die gibt es nicht. Wissenschaft ist ein Prozess, der zu immer neuen Ufern der Erkenntnis fortschreitet.

 

Ich danke Ihnen für das Gespräch, Prof. Dr. Herrmann!

Laura Grotjohann | 12.06.2020